DAS SIND ABER SCHÖNE GEDICHTE !
"Wer sagt, meine Gedichte seien Gedichte?
Meine Gedichte sind keine Gedichte.
Wenn Du verstanden hast,
Dass meine Gedichte keine Gedichte sind,
Dann können wir beginnen, über Poesie zu reden!" 1 )
Nun also "Haiku", mein jüngstes künstlerisches Projekt, das mich vermutlich noch lange Zeit beschäftigen wird: Eine Serie von Bildern, deren Titel selbst Haiku sind, eine traditionell japanische Gedichtform. "Das sind aber schöne Gedichte !" ist man geneigt zu sagen. Man könnte das Haiku auf den ersten Blick als harmlose, gefällige Naturlyrik ansehen. Aber worum geht es sonst ? Die tiefere Ebene eines Haiku beschreibt der Übersetzer Jan Ulenbrook wie folgt:
"Und so ist, wie Goethe sagt, "jeder Zustand, ja jeder Augenblick von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit", und nach William Blake ist "die kleinste Blume zu schaffen, das Werk von Äonen". Daher fällt dem Haiku die Aufgabe zu, den flüchtigen Augenblick eines Naturerlebnisses (...) mit seinem unfassbaren Stimmungsgehalt in wenige, treffende Worte zu fassen, um so auf das unbegreifliche Geheimnis hinzuweisen, das sich in ihm offenbart." 2 )
Traditionelle Haiku sind immer Ausdruck eines unmittelbaren Erlebens im Hier und Jetzt, mindestens der Sehnsucht danach. Aber sind wir nicht immer im Hier und Jetzt ? Was soll dieser Begriff aussagen ? Wer mit seiner Wahrnehmung und seinen Gedanken völlig im Augenblick verweilt, wird dort keine Gründe finden für "gerechte" Kriege oder die Abwertung von anderen Menschen. Der innere wie äußere Frieden kann nur in der Gegenwärtigkeit des Geistes existieren. Wer Gegensätze wie Freund < > Feind konstruiert, aus Ideen, die in Vergangenheit oder Zukunft begründet sind, erschafft die Wurzel des Unfriedens. Es ist ein Leichtes für einen imperialistischen Herrscher, mit der ältesten Landkarte den jüngsten Krieg zu begründen. Oder mit dem Schüren von Angst vor dem, was der Feind planen könnte. Aber es geht auch etwas kleiner: Wer andere abwerten möchte, beginnt seine Sätze am besten mit "Du hast doch immer ..." oder "Die werden am Ende noch ..."
Vergegenwärtigung
Daß wir eben nicht alle im Hier und Jetzt leben, kann ich täglich an jeder Bushaltestelle beobachten. Vorausgesetzt, ich starre nicht gerade auf mein Smartphone. Roger Willemsen, meines Erachtens ein genialer Analytiker unseres Zeitgeistes, sieht sogar die "Vergegenwärtigung" als eine große Herausforderung unserer Epoche, wenn er in seiner letzten öffentlichen Rede sagt:
"Neu ist vielleicht nicht der Mensch, der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau. Neu ist nicht einmal jener, der auf den Bildschirm interessierter blickt als auf die Welt und von "virtueller Welt" spricht, damit sie der alt-analogen wenigstens noch semantisch gleiche. Neu ist eher jener Typus des "Second-Screen-Menschen", dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt ( ... ). Wir machten dabei nicht der Gegenwart allein den Prozess, sondern unserer eigenen Anwesenheit. Wir fanden, die Räume seien es nicht wert, dass man in ihnen verweilte, wir selbst fühlten uns nicht gemacht, hier zu sein und zu bleiben. Selbst im öffentlichen Raum schwinden ja die Transit-Zonen des reinen Wartens; die Fristen der nicht-effektiven Zeiten, der drohenden Selbstversenkung werden knapp. Musik fällt ein, Bilder strömen, Informationen schwirren aus, ungerufen." 3 )
"Entwicklungsgeschichtlich ist demnach der Punkt erreicht, an dem wir Aufklärung nur denken können, indem wir die Geistesgegenwart retten. Dass wir je diesen Punkt erreichen würden, hat kein Futurologe antizipieren können, stehen wir doch vor einem neuen Imperativ, der uns abverlangt, uns zu vergegenwärtigen im Wortsinn: hier zu sein, in dieser Zeit anzukommen - nicht in der Ferne der Displays, nicht auf den Modulen unserer ausgelagerten Intelligenz, nicht in den virtuellen Universen, nicht in der digitalen Parallelwelt des Sozialen, die sich vor der Realität dieses sozialen Asozialen verschiebt, sondern in jener praktischen Welt, in der die Frage nach dem Überleben aller gerade neu gestellt wird." 4 )
"... - und ich sage das nicht um einer schnöden Technik-Kritik willen, über die sich die Effizienz der Technik in ihrer Abstimmung auf unser Wünschen ohnehin hinwegsetzt -, ich sage es im Versuch, eine Vorstellung geistiger Wirksamkeit heute überhaupt zu denken, setzt sie doch eine Einheit des Reflektierens, des panoramischen Blickens, Staunens, Zweifelns, Schauens, und, ja, Vergegenwärtigens voraus. Anders gesagt: Von den bewusstseinsbildenden Prozessen der Kultur kann nicht gesprochen werden, ohne zu fragen, unter welchen Bedingungen Bewusstsein heute überhaupt zustande kommt." 5 )
Von all den wunderbaren Wortschöpfungen in Willemsens Rede gefällt mir am besten die "drohende Selbstversenkung". Diese Bedrohung lauert tief unten in jedem Haiku ...
Ich und Du
Ist das Lesen von Haiku (als Ausdruck des unmittelbaren Erlebens) eine Möglichkeit, sich zu "vergegenwärtigen" ? Liegt darin nicht ein Widerspruch ? Warum sollte ich, um im Hier und Jetzt anzukommen, die Haiku eines anderen Menschen lesen, der vielleicht in Japan lebte und schon lange tot ist ? Das Ich, z.B. ein wohlgenährter Musiker im 21. Jahrhundert, versetzt sich in ein historisches Du, wie z.B. den hungernden Dichter Issa 6 ) im 18. Jahrhundert. Trennt sie nicht viel mehr, als sie gemeinsam haben ? Andererseits ist doch jeder Mensch vom anderen getrennt durch den folgenschwersten Gegensatz, den die Welt zu bieten hat: Die Kluft zwischen Ich und Du. Ich hier - Du da. Ich wollte doch nur - Du hast aber immer. Ich gut - Du böse. Da kommen wir nicht heraus. Aber was wäre, wenn der Gegensatz Ich < > Du genauso ein Konstrukt unseres Denkens wäre, wie der Gegensatz Freund < > Feind ? Was, wenn die Vergegenwärtigung, in letzter, radikaler Konsequenz, diese Kluft überwinden könnte ? Könnte das eines der "unbegreiflichen Geheimnisse" (s.o.) sein, die sich in klassischen Haiku offenbaren ?
Zeit und Ewigkeit
Ein zweiter Gegensatz wird oben angedeutet: die zeitliche Entfernung über die Jahrhunderte, die absolut unüberbrückbar scheint. Aber was wäre, wenn wir ein Teil der Ewigkeit wären, und nicht nur ein Teil der Zeit ? Was würde dann aus dieser Entfernung ? Wie es im oben zitierten Text von Ulenbrook bereits anklang, können wir im Nachspüren eines Haiku eine Ahnung von Ewigkeit erfahren. Ähnliche Ideen kann man auch in der westlichen Ästhetik finden, z.B. bei der französisch-jüdischen Philosophin Simone Weil:
"Sterne und blühende Obstbäume. Das völlig Dauerhafte und das äußerst Zerbrechliche wecken gleichermaßen das Gefühl des Ewigen." 7 )
"Zerstörung Trojas. Fallende Blüten der Obstbäume. Wissen, dass das Kostbarste keine Wurzeln in der Existenz hat. Das ist schön. Warum? Weil es die Seele über die Zeit hinausführt." 8 )
"Das Schöne umfasst, unter anderen Vereinigungen der Gegensätze, die des Augenblicklichen mit dem Ewigen." 9 )
Sterne und blühende Obstbäume: Bilder wie gemacht für ein "schönes" Haiku ! Mit fallenden Blüten als Vanitas-Motiv, oder Wabi-Sabi, wie der Japaner sagen würde. Die Schönheit der Vergänglichkeit. Mehr noch, die Schönheit als Überwinderin der Gegensätze, die die Seele hinausführt in die Ewigkeit - aber eben nur im Wissen um die Vergänglichkeit alles Kostbaren. So ähnlich ist es auch im Zen, dem kulturellen Umfeld des traditionellen Haiku: Die Sterne und die blühenden Obstbäume, die Überwindung der Gegensätze, sind nicht zu haben ohne die Erfahrung der großen Leere, das vollkommene Loslassen des Ego.
Nebenbei: Was wäre, wenn der besagte imperialistische Herrscher nur ansatzweise das Loslassen seines Ego geübt hätte? Nicht auszudenken. Oder wenn ich, bevor ich so etwas sage wie "Du hast doch immer ..." oder "Die werden am Ende noch ..." ein paar Haiku gelesen, mich vielleicht in einen hungernden, aber dennoch völlig zufriedenen Dichter hineinversetzt hätte ?
Was will der Künstler uns damit sagen ?
Wenn wir uns alle leeren von den konstruierten Gegensätzen in unserer Welt, wenn wir alle im Hier und Jetzt ankommen, uns eins fühlen, wenn wir die drohende Selbstversenkung durch Haiku todesmutig annehmen, dann sollte doch der Frieden auf Erden endlich möglich sein, oder ? Hanns Dieter Hüsch, der Dichter vom Niederrhein, schrieb 1981 einen Liedtext, "Das Phänomen". Damit meinte er den Faschismus, der seit damals wieder sichtbarer wird. Die Schlusszeilen lauten:
"Nur wenn wir in uns alle sehn / Besiegen wir das Phänomen
Nur wenn wir in uns alle sind / Fliegt keine Asche mehr im Wind" 10 )
Die jeweils ersten Halbzeilen könnte man mehrdeutig verstehen: Meint der Autor "... alle in uns hinein sehen", oder "... in uns das Ebenbild aller Menschen sehen" ? Meint er "... in uns selbst angekommen sind", oder "... tief in uns eins sind mit allen" ? Ich vermute genau das, in ungefähr dieser Reihenfolge. Ich verstehe dies als Aufruf zur Vergegenwärtigung, zum Fallenlassen der Gegensätze, zum bedingungslosen Menschsein. Dann könnten wir "das Phänomen" besiegen. All diese Imperative stecken auch im Haiku. Quod erat demonstrandum:
Haiku können die Welt retten !
Ganz schön naiv, werden die meisten sagen. Ja, natürlich. Aber bis ich einen besseren Vorschlag habe, fange ich schon mal bei mir an
- mit "Haiku".
"Wo es Schönheit gibt, da gibt es auch Hässlichkeit;
Wo es Richtig gibt, da gibt es auch Falsch.
Weisheit und Unwissenheit bedingen einander,
Illusion und Erleuchtung kann man nicht trennen.
Dies ist eine alte Wahrheit;
glaube nicht, sie sei erst jetzt entdeckt worden.
"Ich will dies, Ich will jenes"-
Das ist nichts als Dummheit.
Ich will dir ein Geheimnis verraten:
Alle Dinge sind vergänglich!" 11 )
1 ) Eine Schale, ein Gewand, Zen-Gedichte von Meister Ryokan, Werner Kristkeitz Verlag 1999, S. 42
2 ) Jan Ulenbrook, Haiku, Reclam 2004, S.285/286
3 ) Roger Willemsen, Wer wir waren, S. Fischer, 3. Auflage 2016, S. 34-35
4 ) ebd., S. 31
5 ) ebd., S. 32
6 ) Kobayashi Issa (1763-1828), einer der 4 größten japanischen Haiku-Dichter
7 ) Simone Weil (1909-1943), Schwerkraft und Gnade, Matthes & Seitz Berlin, 2. Auflage 2021, S. 119
8 ) ebd.
9 ) ebd., S. 160
10 ) H.D. Hüsch, Das Phänomen, 1981
11 ) Eine Schale, ein Gewand, Zen-Gedichte von Meister Ryokan, Werner Kristkeitz Verlag 1999, S. 30
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