DAS GEHEIMNIS
... oder: Beuys, Steiner, Riegel und ich
Ich bin kein Freund von Personenkult, aber trotzdem bin ich seit meiner Jugend von der Person Joseph Beuys fasziniert. Bei jedem seiner Sätze, bei jedem Kunstwerk bleibt etwas unerklärlich, ein Rest Geheimnis, das sich nicht auflösen lässt, aber eine tiefe Ausstrahlung hat. Etwas beinahe religiöses, oft christlich geprägt, aber weit abseits der institutionellen Kirche und nie ganz in Begriffe zu fassen. Und so habe ich mich über viele Jahre immer wieder mit Beuys beschäftigt, wohl in der Hoffnung, ein wenig mehr zu verstehen. 2024 las ich die ganze, 4-bändige Beuys-Biographie von Hans Peter Riegel, die von Beuys-Jüngern scharf kritisiert wurde. Ich muss zugeben, der Stil von Riegel hat zwischen den Zeilen etwas besserwisserisch auftrumpfendes, und wesentliche Punkte wiederholt er in jedem Band mehrfach. Daß Beuys Anthroposoph war, wusste ich schon lange, das ist nicht schwer herauszufinden. Auch daß die sogenannte Tatarenlegende eben eine Legende ist, war schon länger bekannt. Aber durch die akribische, fast besessene Recherche von Riegel, der alles bis ins Letzte mit Quellenangaben belegt, habe ich folgendes lernen müssen: Beuys war nicht nur ein Geschichtenerzähler, der die Wahrheit nicht so genau nahm, bis hin zur Hochstapelei und Anstiftung zur Urkundenfälschung. Er hat nicht nur seine eigene Mittäterschaft im Zweiten Weltkrieg zeitlebens heruntergespielt, er hat auch die Nähe zu ehemaligen Nazis und bekennenden Holocaustleugnern nicht gescheut, wenn es um Mäzene, politisches Vorankommen oder anthroposophische Freundschaften ging. Was mich am meisten überrascht hat, war aber folgendes, durch Riegel an unendlich vielen Beispielen bestens belegt: Beuys hat so gut wie alle seine Gedanken zur sozialen Plastik sinngemäß, manchmal auch wörtlich, von Rudolf Steiner und anderen Anthroposophen übernommen. Begriffe wie „Wärmeprozess“, „Parallelprozess“ und sogar der oft seltsam umgestellte Satzbau gehen auf Steiner zurück. Er war seit ungefähr Mitte der 1950er Jahre vollkommen von dessen esoterischer Lehre bestimmt, glaubte an planetarische Zeitalter, "atlantische" (von Atlantis) und "lemurische" Menschenrassen, Engelhierarchien und die historischen Missionsaufgaben bestimmter "Volksseelen", v.a. der deutschen (siehe unten). Wenn man diesen Hintergrund ernst nimmt und die entsprechenden Steiner-Zitate kennt, lässt sich jedes einzelne der o.g. "Geheimnisse" in seinen langatmigen Schwurbeleien entschlüsseln als Wiedergabe der kruden, eklektizistischen Ideen Rudolf Steiners. Es gibt sogar Beuys-Zitate, die seinen Glauben an einen entsprechenden missionarischen Auftrag durch den Geist Steiners höchstpersönlich belegen. Viele seiner Reden mussten (oft als links-revolutionär) missverstanden werden, wenn man den tiefen Einfluss Steiners auf sein Denken nicht kannte oder ausblendete. All diese Fakten hätten Joseph Beuys in seiner Karriere als Professor und als weltweit anerkannter Künstler erheblich schaden können, man hätte ihn vermutlich als esoterischen Spinner abgetan. Das wusste er und hat sich deswegen zeitlebens nur innerhalb der anthroposophischen Zirkel zu seinem Glauben bekannt. Aus dem gleichen Grund werden diese Erkenntnisse bis heute von Beuys' Jüngern und Erben verschwiegen und sogar aktiv bekämpft, auch dafür liefert Riegel anschauliche Beispiele. Wer das alles nicht glauben mag, möge sich bitte selber die mehr als 1300 Seiten antun, dort ist alles dutzendfach akribisch belegt. Interessant ist übrigens auch, daß etliche Zeitgenossen, Freunde, Kollegen und Studenten von Beuys, schon frühzeitig über dessen wahre Hintergründe gesprochen haben, was aber bis vor kurzem völlig überhört wurde.
Was bedeutet das jetzt für meine eigene Beuys-Rezeption ? Genau wie Hans Peter Riegel halte auch ich ihn noch immer für einen genialen, faszinierenden, historisch überaus bedeutenden Künstler. Aber man muss den durch und durch anthroposophischen Hintergrund seines ganzen Lebenswerkes ab jetzt immer mitdenken, und dabei geht – jedenfalls für Nicht-Anthroposophen - ein großer Teil seines spirituellen Geheimnisses verloren.
Beuys ein nationalistischer Rassist ?
Aus Begriffen wie "Volksseele", "nordische Rasse" und vielen ähnlichen haben Steiner-Kritiker immer wieder, wie auch Riegel mit Blick auf Beuys, eine rassistisch-völkische Gesinnung abgeleitet. Aber genau an diesem Punkt fand ich Riegels Belege oft oberflächlicher und weniger stichhaltig als seine übrigen Recherchen. Ich wollte mehr wissen. Daraufhin habe ich den Steiner-Band "Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie" gelesen. Das ist eine Sammlung von 11 Vorträgen, die Steiner 1910 in Oslo gehalten und Jahre später zusammen veröffentlicht hat. Meine Ausgabe war aus den 1950er Jahren. Darin fand ich viele Zitate, die man ohne Zusammenhang und aus heutiger Sicht klar als rassistisch bezeichnen muss. Wenn man aber den Zusammenhang und die Denkweise Steiners berücksichtigt, ergibt sich das folgende Bild: Die Entwicklung der verschiedenen Menschenrassen hängt laut Steiner mit den entsprechenden planetarischen Erdzeitaltern zusammen. Die Rassen hätten sehr unterschiedliche Fähigkeiten entwickelt, und ja, die nordisch-germanische sei die zur Zeit am höchsten entwickelte, sie sei v.a. zum "Denken" befähigt. Natürlich ist der hier verwendete Rassenbegriff an sich schon aus heutiger Sicht rassistisch. Zu Steiners Zeit (er starb übrigens 1925) war er völlig normal. Und natürlich benutzt er das N-Wort und den Begriff "Indianer". Andererseits muss man berücksichtigen, daß die Fähigkeiten, die Steiner hier eigentlich meint, sich auf einer spirituellen Ebene abspielen, auf der verschiedene Erzengelwesen sich sozusagen weiterbilden und damit die Entwicklung der sog. "Volksseelen" voranbringen. Auch der Begriff der Volksseele muss erst einmal verstanden werden. Steiner meint tatsächlich ein eigenständiges, geistiges Wesen, das quasi als Schirmherr eines Volkes oder einer Rasse deren Geschichte mitbestimmt. Es fallen andauernd Begriffe wie "abnorme Erzengel" u.ä. Hier geht es also nicht um die konkreten Fähigkeiten oder Charaktere von Menschen, sondern um eine, zugegebenermaßen völlig abstrus konstruierte, spirituelle Metaebene.
Im gleichen Band warnt Steiner mehrfach davor, daß die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Rassen niemals Vorwand für deren Bewertung sein dürfen, sondern daß jeder Mensch in seinen verschiedenen Reinkarnationen zu seinem Vorteil alle diese Rassen "durchmacht", und daß die Rassen sich gegenseitig mit ihren verschiedenen (spirituellen) Fähigkeiten weiterhelfen können und sollen. Er lehnt jede religiös oder nationalistisch begründete Wertung von Menschen oder Völkern ab und prophezeit, daß sich in dem nun beginnenden und den folgenden Erdzeitaltern der Rassebegriff von selber erübrigen würde, da sich alle Menschen gemeinsam zu einer neuen, besseren Menschheit weiterentwickeln würden. Und zwar wieder mehr hin zum Geistigen – sprich, sie werden bei guter Führung in ein paar tausend Jahren selber zu Engeln, Erzengeln, Thronen und Mächten ... Aha, wie schön.
Dazu passt ergänzend ein Artikel der TAZ, in dem ein Gutachten der Nationalsozialisten über die Anthroposophie zitiert wird: "Ergebnis: Diese stünden den „Gedanken von Blut, Rasse, Volk“ ganz fern. Und die Waldorfschulen, so das NS-Urteil, verfolgten eine „individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat“. Die Nazis hatten begriffen, dass die Anthroposophie allem widersprach, was sie propagierten. Das heißt nicht, dass jede einzelne Steiner-Äußerung zu verteidigen wäre; dazu gibt es längst eindeutige Erklärungen [...] von anthroposophischer Seite. Sehr wohl kann man auch darüber diskutieren, inwieweit Steiners Denken eine Art kulturelles Ranking enthält, in dem die nord- und mitteleuropäische Kultur als impulsgebend verstanden wird. Andererseits schrieb er eine solche Rolle für die Vergangenheit der indischen und ägyptischen Kultur zu, für die Zukunft der slawischen." (Aus: Wolfgang Müller, Der Anthroposoph, ein Rassist? In: TAZ Thema Anthroposophie, Oktober 2021, zitiert nach TAZ.de, 14.10.2021)
Im Wikipedia-Artikel über die Anthroposophie ist zu lesen: "Am 1. November 1935 wurde laut Verfügung der Preußischen Geheimen Staatspolizei „die im Gebiete des Deutschen Reiches bestehende Anthroposophische Gesellschaft […] wegen ihres staatsfeindlichen und staatsgefährlichen Charakters“ aufgelöst. Das Dekret trug die Unterschrift von Reinhard Heydrich." (abgerufen zuletzt am 02.02.2025)
Johannes Stüttgen, der zu den engsten Schülern und Mitarbeitern von Beuys gehörte, und der wahrscheinlich selber Anthroposoph ist, gab im Jahre 2020 dem Youtube-Kanal des HLMD Darmstadt ein Interview: "Zeitzeugen zu Block Beuys Interview mit Johannes Stüttgen". Darin deutet er von Minute 31:00 bis 40:30 Beuys' NS-Bezüge in seiner Kunst. Innerhalb dieser sehr interessanten Ausführungen, die auch dem heutigen Zuhörer den Spiegel vorhalten, spricht er von den "rechtslastigen Bewegungen, die an allen Ecken und Enden zum gesellschaftlichen Problem werden", spricht vom "3. Reich als Katastrophe" und bekennt sich eindeutig zur Demokratie, wenn auch als notwendig weiter zu entwickelnde, die ansonsten Gefahr läuft, die erreichte Freiheit wieder aufs Spiel zu setzen. Ob sein Konzept des "Omnibus für Direkte Demokratie" die Lösung für unsere politischen Probleme bereithält, mag man bezweifeln. Trotzdem kann ich seinen Ausführungen folgen, ohne darin völkische Gedanken zu entdecken. Und Stüttgen ist vermutlich derjenige, der am engsten mit Beuys' Ideologie vertraut ist und sie auch weiterhin propagiert.
An Steiners – und damit an Beuys' - Philosophie kann man vieles kritisieren, widersprüchlich finden oder sogar völlig irre. Aber daß sie völkisch oder faschistisch dachten, kann man meines Erachtens nicht behaupten, wenn man ihre eigentliche, spirituelle Denkweise zu verstehen sucht, was – zugegeben – oft sehr schwer fällt.
© Boris Berns 2025